Medikamentenmangel, Lieferengpässe
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10. Oktober 2023

FOCUS MEDIKAMENTENMANGEL

Weitere Massnahmen sind notwendig

Eine koordinierte Zusammenarbeit zwischen Bund, Kantonen, Leistungserbringern und Industrie und ein länderübergreifendes Vorgehen sind laut BAG gefragt, um die Medikamentenversorgung zu verbessern.
Competence Martina Greiter

Autorin

Martina Greiter

Redaktorin Competence deutsche Schweiz

martina.greiter@hplus.ch

Versorgungsengpässe bei Medikamenten – Arzneimittel und Impfstoffe – nehmen weltweit zu, auch in der Schweiz. Indikatoren für ihre Evidenz sind die Listen der Meldestelle des Bundesamts für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) über aktuelle Versorgungsstörungen oder jene von privaten Initiativen wie www.drugshortage.ch,­ die von Enea Martinelli, Vizepräsident des Schweizerischen Apothekerverbands (pharma­Suisse) geführt wird­ (siehe Interview in dieser Ausgabe).

Weltweit haben die Behörden versucht, die Mehrausgaben bei den Originalmedikamenten mit Einsparungen bei den Nachahmerprodukten zu kompensieren. Die Industrie hat folglich begonnen, die Herstellung von patentfreien Medikamenten in Günstigländer zu verlegen.

Dr. Lucas Schalch, Geschäftsführer von Intergenerika, Vereinigung der führenden Generikafirmen in der Schweiz

Eine Folge der Globalisierung

Betroffen sind laut Bundesamt für Gesundheit (BAG) verschiedene Medikamentengruppen, besonders aber Krebsmedikamente und Impfstoffe. Zu nennen sind aber auch weitere Medikamente, insbesondere zur Behandlung von Epilepsie, Parkinson, psychiatrischen Erkrankungen, Bluthochdruck, erhöhten Cholesterinwerten sowie von kranken Kindern.

Die Ursachen für die Versorgungsengpässe und -lücken liegen laut BAG in erster Linie bei ökonomischen Gesetzmässigkeiten: Die Globalisierung führe mit ihrem ökonomischen Druck zu einer Zentralisierung der Herstellung auf wenige Standorte. Die Nachfrageschwankungen seien hoch, besonders bei Impfstoffen. Lean Management in der Lagerbewirtschaftung führe zu geringen Lagerbeständen am Ende der Versorgungskette. Ausfälle oder Qualitätsprobleme in der Herstellungskette bleiben nicht lokal beschränkt, sondern wirken sich weltweit aus.

Vor allem niedrigpreisige Nachahmerprodukte von Engpässen betroffen

Dr. Lucas Schalch, Geschäftsführer von Intergenerika, der Vereinigung der führenden Generikafirmen in der Schweiz, analysiert die Lage in einem Interview mit dem Magazin Prestige Business folgendermassen: «Wichtig ist, dass man zwischen zwei Märkten unterscheidet. Es gibt den Markt für die patentgeschützten Originalarzneimittel sowie den volumenmässig grösseren Markt für die Nachahmerprodukte wie Generika und Biosimilars.» Von den Rohstoffengpässen sei v. a. der Markt der Nachahmerprodukte betroffen, wohingegen der Markt für die Originalprodukte aufgrund teilweise komplett anderer Lieferketten von diesen Lieferproblemen praktisch verschont geblieben sei.

Pharmaindustrie, Medikamente, Medikamentenmangel
Aktuell stammen fast 70 Prozent der generischen Arzneimittel aus Indien und China; die Rohstoffe hauptsächlich aus China und die Fertigprodukte aus Indien (Foto: Canva.com).

Auf die Frage, warum die generische Industrie so stark von den Engpässen betroffen ist, sei die Antwort einfach: «In den letzten Jahren haben Staaten weltweit einen massiven Preisdruck auf Generika und Biosimilars ausgeübt, um dadurch grosse Einsparungen im Gesundheitswesen zu erreichen.» Die Behörden hätten versucht, die Mehrausgaben bei den Originalmedikamenten mit Einsparungen bei den breit eingesetzten generischen Arzneimitteln der Grundversorgung zu kompensieren. Das habe wiederum dazu geführt, dass die Industrie zur Optimierung der Kosten gezwungen wurde, um weiterhin profitabel zu bleiben.

Folglich habe die Industrie damit begonnen, die Herstellung in Günstigländer wie China und Indien zu verlegen. Aktuell stammen laut Schalch fast 70 Prozent der Medikamente aus diesen zwei Ländern, wobei die Rohstoffe hauptsächlich aus China und die Fertigprodukte aus Indien stammen.

«Diese Konzentration hat letztlich dazu geführt, dass sich nicht nur zahlreiche Hersteller aus dem heimischen Markt zurückgezogen haben, sondern dass auch die wenigen, die noch geblieben sind, zum Teil auf die gleichen Lieferanten in China angewiesen sind. Die Pandemie hat die Situation noch verschärft, das Problem hat aber schon vorher bestanden», folgert Lucas Schalch. Auffällig sei, dass v. a. Medikamente und Wirkstoffe im Tiefpreissegment von der Problematik betroffen seien, wobei viele Akteure leider den Zusammenhang von tiefen Preisen und Versorgungsengpässen noch nicht erkannt hätten.

Die wirtschaftliche Landesversorgung (WL) will mittelfristig die Meldepflicht erweitern, das Monitoring stärken und baldmöglichst die Meldeprozesse digitalisieren. Zudem soll auch die Zahl der in Pflichtlager gehaltenen Heilmittel stark ausgebaut werden.

Kurzfristige Massnahmen reichen nicht aus

Um die Situation zu verbessern, schreibt das BAG, müssen die bisherigen kurzfristigen Massnahmen, die Bund und Kantone ergriffen haben, ergänzt werden. Zum einen brauche es eine koordinierte Zusammenarbeit zwischen Bund, Kantonen, Leistungserbringern und der Industrie sowie länderübergreifende Vorgehensweisen. Zum anderen brauche es Klarheit, mit welchen (zusätzlichen) Instrumenten eine möglichst grosse Wirkung zur nachhaltigen Verbesserung der Versorgungssituation erzielt werden kann. Hierzu hat das BAG den Versorgungsbericht 2022 erarbeitet, der die Zusammenhänge innerhalb der gesamten Versorgungskette aufzeigt und mögliche Massnahmen vorschlägt. Der Bericht wurde vom Bundesrat am 16. Februar 2022 zur Kenntnis genommen. Ebenfalls hat er einen umfassenden Massnahmenkatalog zur vertieften Überprüfung verabschiedet.

Weitere anstehende Massnahmen des Bundes

Auf Nachfrage von Competence erläutert das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL), welche mittel- und langfristigen Massnahmen als Nächstes anstehen. Die wirtschaftliche Landesversorgung (WL) will mittelfristig die Meldepflicht erweitern, das Monitoring stärken und baldmöglichst die Meldeprozesse digitalisieren. Zudem soll auch die Zahl der in Pflichtlager gehaltenen Heilmittel stark ausgebaut werden, um den Bedürfnissen des Marktes gerecht zu werden. Weitere Projekte, an denen auch andere Akteure beteiligt sind, befassen sich etwa mit Fragen zu Marktzugang, Preisbildung, Vergütung, Lieferketten, Herstellung, Beschaffung und Abhängigkeiten vom Ausland.

Die «Taskforce Engpass Medikamente» hat ferner, nachdem sie kurzfristige Lösungen wie die Teilmengenabgabe umgesetzt hat, bei Sistierung ihrer Arbeit im April 2023 auch längerfristig ausgerichtete Projektarbeiten an das BWL und das BAG übergeführt. Auch andere Bundesstellen und Kantone sowie Wirtschaft und Leistungserbringer beteiligen sich an den Arbeiten für eine verbesserte Versorgungssicherheit. Diese Arbeiten basieren auf dem Versorgungsbericht des BAG 2022 (siehe auch oben). Gemäss BWL will die interdisziplinäre Arbeitsgruppe dem Bundesrat voraussichtlich im zweiten Quartal 2024 konkrete Umsetzungsmassnahmen unterbreiten.

Beitragsbild: Canva.com