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10. Oktober 2023

Psychiatrie

Lean und Design Thinking – Ansatz auch für Psychiatrien

Gesundheitsinstitutionen stehen unter Druck. Neue Rezepte sind gefragt, auch in der Psychiatrie. Zu den neuen Entwicklungsansätzen gehören Lean Management und Design Thinking. Die beiden Ansätze helfen, den Arbeitsalltag der Mitarbeitenden in Kliniken zu verbessern und mehr Qualitätszeit bei den Patient:innen zu gewinnen.
Competence Philipp Mattmann

Autor

Dr.

Philipp Mattmann

Direktor Pflege und Bildung, PZM Psychiatriezentrum Münsingen AG

philipp.mattmann@pzmag.ch

Competence Harald Müller

Autor

Harald Müller

RN, MSc. OD, Pflegedirektor, Leiter Akut- und Alterspsychiatrie Sanatorium Kilchberg

h.mueller@sanatorium-kilchberg.ch

Competence Elena Seidel

Autorin

Elena Seidel

MScN, Direktorin Pflege Psychiatrie Baselland

elena.seidel@pbl.ch

Das Gesundheitswesen ist mit grossen Herausforderungen konfrontiert. Fachkräftemangel, Kostendruck, steigende Erwartungshaltungen der Patient:innen sowie die COVID-19-Pandemie und deren Auswirkungen sind einige Stichworte dazu. Die Konsequenz: Der bereits heute hohe Druck auf Leistungserbringende sowie deren Führungskräfte und Mitarbeitende steigt weiter. Gleichzeitig stossen bisherige Konzepte für Veränderungsprojekte an ihre Grenzen. Neue Rezepte sind gefragt.

Stärkeres Involvieren von betroffenen Personen

Vielversprechend zeigen sich kreative Entwicklungsansätze, welche in der Regel ergebnisoffen starten und mit einer stärkeren Involvierung der betroffenen Personen vorgehen. Es werden schneller konkrete Resultate produziert, die nach Testung im Alltag und erneuter Anpassung nachhaltig verbindlich sind. Hier kommen Lean Management und Design Thinking als zentrale Ansätze ins Spiel.

Die Folge: Veränderungsprojekte werden wirksamer und effizienter, da auf diesem gemeinsamen Weg die für nachhaltige Ergebnisse nötige Grundmotivation gleichzeitig mitaufgebaut und gefestigt wird. Anders formuliert: Die Unternehmenskultur wird mitgeprägt und mitgestärkt.

Kombination von Lean und Design Thinking als Lösungsansatz

Lean Management als Philosophie, Haltung und Methodenkoffer entstand in Japan bei Toyota Ende der 1930er- bzw. in den 1940er-Jahren und wurde durch das Toyota Production System TPS weltweit berühmt.

Design Thinking als Innovationsansatz wurde Mitte der 80er Jahre von der Kreativagentur IDEO in den USA entwickelt und durch das Institute of Design der Stanford University weltweit popularisiert.

Abbildung: Kombination der beiden Methoden

Während Lean Management methodisch klar auf Prozessverschlankung und Qualitätssteigerung aus Kund:innensicht fokussiert, zielt das Vorgehen gemäss dem Design Thinking Zyklus auf eine innovative, nachhaltig transformative Problemlösung ab.  Die Kombination dieser beiden Ansätze hat sich in der Praxis bewährt.

Während mittels Design Thinking zum Beispiel neue Behandlungsprozesse und die dazugehörige Organisationsstruktur einer psychiatrischen Akutstation entwickelt werden, stellt Lean Management bewährte Techniken zur Umsetzung zur Verfügung. Diese sind zum Beispiel die sogenannte 5S Methode zur Verbesserung der Arbeitsorganisation oder das Huddle Board, ein Meetinggefäss und Instrument zur Steuerung der Tagesorganisation auf den Stationen auf der Basis zentraler Führungsinformationen oder, als Führungs-Huddle, zur Steuerung einer ganzen Station mit dem Führungsteam. Das Kaizen Board hilft, Verbesserungsideen zu steuern und umzusetzen. So können kontinuierlich die Wirksamkeit gesteigert und Effizienzpotenziale ausgeschöpft werden.

Drei Beispiele aus der Praxis

So hat beispielsweise das Sanatorium Kilchberg durch ein solches Lean und Design Thinking-Projekt die hohe Belastung der Behandlungsteams in der Akutpsychiatrie adressiert und mehr Zeit für die Arbeit mit den Patient:innen gewinnen können. Die Strukturen aller drei Stationen in Kilchberg wurden synchronisiert, regelmässige Austauschgefässe und ein Führungs-Huddle zur Führung der Stationen etabliert. Des weiteren durch einen stärkeren Miteinbezug der Patient:innen sowie die Implementierung von Stationssekretariaten.

Ähnlich hat die Psychiatrie Baselland ein neues patientenzentriertes Betriebsmodell für die stationäre Erwachsenenpsychiatrie eingeführt, um die Zeit der interprofessionellen Kernteams mit den Patient:innen zu erhöhen. Dabei wurden über die ganze Klinik hinweg neue Austauschgefässe wie ein kurzer Orgatreff pro Station eingeführt und die Tages- und Wochenabläufe aller Stationen aufeinander abgestimmt. Durch die neue Funktion Stationsassistenz wurden administrative und organisatorische Tätigkeiten gebündelt, um die Fokussierung des Fachpersonals auf seine Kernaufgaben zu unterstützen.

Als drittes Beispiel haben die Universitären Psychiatrischen Dienste Bern mit diesem integralen Ansatz ein neues Organisationsmodell der Pflege eingeführt. Dies, um mehr Qualitätszeit bei den Patient:innen zu gewinnen und die Attraktivität für die Mitarbeitenden und Führungskräfte zu steigern. Dies konkret durch eine Neuorganisation des Bezugspersonenmodells, der Arbeitsplanung, digitale Huddle Boards zur Optimierung der interdisziplinären Zusammenarbeit, eine verbesserte fähigkeits- und stufenbasierte Aufgabenteilung sowie neue und attraktive Rollenprofile.

Lean und Design Thinking in der Psychiatrie: Erster Erfahrungsaustausch im PZM Psychiatriezentrum Münsingen

Vor diesem Hintergrund kamen im November 2022 36 Teilnehmende aus 14 psychiatrischen Institutionen der ganzen Schweiz im PZM Münsingen zusammen, um das Thema Lean Management und Design Thinking miteinander zu diskutieren und von diesen und weiteren spannenden Pilotprojekten und Programmen zu lernen.

Um das gemeinsame Potenzial von Lean Management und Design Thinking spezifisch im Bereich der Psychiatrie sichtbar zu machen, wurden im Erfahrungsaustausch folgende Handlungsempfehlungen zusammengetragen:

  1. Bei Veränderungsprojekten müssen die Betroffenen bereits im Analyseprozess aktiv miteinbezogen werden, um so die Handlungsdringlichkeit klar zu erfassen.
  2. Lean und Design Thinking ist ein kreativer und iterativer Prozess, bei dem Herausforderungen bewusst benannt und verstanden, Ideen kreiert und Veränderungsvarianten patient:innenfokussiert getestet und implementiert werden. Dies entwickelt Akzeptanz und eine grosse Zugkraft im Veränderungsprozess.
  3. Die regelmässige Durchführung von Lean und Design Thinking-Prozessen anzustossen im Sinne einer kontinuierlichen Verbesserungs- und Entwicklungspraxis ist zentrale Aufgabe der Unternehmensführung. Sie muss kulturell verankert und damit über die Zeit abgesichert werden. Sie soll zur natürlichen DNA der Spitalorganisation werden.
  4. Ein hoher Grad an Selbstorganisation von Einheiten und Bereichen kann diesen Prozess nachhaltig unterstützen. So fasst ein Teilnehmer der Veranstaltung zusammen: «Die nachhaltige Veränderung kommt nicht von aussen, wenn wir es wie Toyota machen. Die Veränderung kann nur von innen, aus dem System kommen. Dann, wenn es die Führungskräfte und Mitarbeitenden auch wirklich wollen.»

Für Interessierte

Der nächste Erfahrungsaustausch zum Thema Lean und Design Thinking in der Alterspsychiatrie findet in der UPD Bern am Freitag, 3. November 2023 statt.

Co-Autor:innen

  • Katrin Stetter Widmer, EMBA, Leiterin Transformationsmanagement Psychiatrie Baselland, katrin.stetter@pbl.ch
  • Daniel Güdel, MSc, Stv. Leiter Pflege Erwachsenenpsychiatrie, UPD Universitäre Psychiatrische Dienste Bern, daniel.guedel@upd.ch
  • Dr. Andrew Rutsch, Leiter Projekt- und Prozessmanagement Bereich Pflege und Bildung, PZM Psychiatriezentrum Münsingen AG, andrew.rutsch@pzmag.ch

Beitragsbild: UPD Bern