
Wer im Spital arbeitet, kennt das Phänomen: Eine Frau und ein Mann kommen mit vergleichbaren Beschwerden – und erhalten dennoch unterschiedliche Diagnosen. Denn Frauen und Männer erkranken nicht nur verschieden, sie zeigen auch unterschiedliche Symptome und sprechen nicht immer gleich auf Medikamente an. Beim Herzinfarkt etwa klagen Männer meist über Brustschmerzen, während Frauen unter Übelkeit, Atemnot oder Schmerzen im Oberbauch leiden können. Die Folge: Herzinfarkte werden bei Frauen öfters übersehen – mit fatalen Konsequenzen.
Über Jahrzehnte hinweg galt in der Medizin der männliche Körper als Massstab. Forschung, Diagnostik und Therapie orientierten sich am «Durchschnittsmann»: weisse Hautfarbe, etwa 80 Kilogramm schwer, körperlich fit. Medikamente wurden in der Regel an diesen Probanden getestet und Dosierungen an deren Stoffwechsel ausgerichtet. Frauen, ältere Menschen und Personen anderer Herkunft blieben lange unterrepräsentiert.

Wie sich das ändern lässt, diskutierten mehrere Hundert Fachleute beim ersten Swiss Gender Medicine Symposium in Bern. Organisiert von der Universität Zürich, zeigte die Tagung, dass geschlechtersensible Medizin keine Nische mehr ist. Von der Grundlagenforschung bis hin zur Spitalversorgung sollen Genderaspekte künftig systematisch berücksichtigt werden.
Ein zentrales Instrument dafür ist das Nationale Forschungsprogramm NFP 83 «Gendermedizin und Gesundheit» (siehe auch Gendermedizin: 11 Millionen, um Ungleichheiten in der Versorgung zu beseitigen). In den kommenden fünf Jahren soll es evidenzbasiertes Wissen schaffen, das direkt in medizinische Leitlinien und in die Ausbildung einfliesst. Das Interesse ist gross: Über 140 wissenschaftliche Projektanträge gingen ein, 90 konnten bisher finanziert werden. Ein häufiges Problem: In der präklinischen Forschung werden überwiegend männliche Mäuse eingesetzt. Das führt zu verzerrten Ergebnissen. Neue Vorgaben verlangen deshalb, dass auch weibliche Tiere und Zellen berücksichtigt werden. Seit 2020 fordert das EU-Forschungsprogramm Horizon Europe, in Forschungsanträgen Gender- und Intersektionalitätsanalysen explizit zu berücksichtigen (siehe auch European Commission – Gender equality in research and innovation) – also die Untersuchung, wie verschiedene soziale Faktoren zusammenwirken.
Professor Thomas Lüscher vom King’s College London und der Universität Zürich berichtete am Symposium in Bern über die Rolle künstlicher Intelligenz (KI).
KI-Modelle könnten geschlechtsspezifische Muster in grossen Datensätzen sichtbar machen – etwa in EKGs, Bildgebung, Sprachaufnahmen oder genetischen Profilen – und subtile Unterschiede erkennen, etwa atypische Herzinfarktsymptome bei Frauen.
Fallstudien zeigen, dass lernende Systeme heutige Verfahren teilweise übertreffen, etwa durch präzisere Analyse von Patientengesprächen oder individuellere Risikoprofile. Bei aller Euphorie gilt jedoch: Nur validierte und transparente KI-Modelle verdienen Vertrauen – andernfalls können alte Vorurteile algorithmisch verfestigt werden.
In der medizinischen Ausbildung gibt es ebenfalls Veränderungen. So hat die Universität Zürich einen Lehrstuhl für Gendermedizin eingerichtet. Gleichzeitig werden geschlechtsspezifische Inhalte in die medizinischen Curricula aufgenommen, um ihre dauerhafte Verankerung in der Lehre sicherzustellen.
Forschung, Lehre und Praxis nähern sich damit einem gemeinsamen Ziel: einer Medizin, die Unterschiede nicht übersieht, sondern diese versteht und darauf reagiert.
Beitragsbild: Frauen, ältere Menschen und Personen anderer Herkunft blieben in medizinischen Studien lange unterrepräsentiert. (Foto: Canva)