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18. September 2025

Zwei Pflege-Führungspersönlichkeiten im Gespräch

«Als Leaderin muss man Menschen mögen»

Ein offenes Gespräch darüber, was Leadership heute bedeutet, allgemein und insbesondere in der Pflege. Zwei Karrierewege, eine Leidenschaft: Agnèse Niederberger, CNO der Berner Lindenhofgruppe und Alessia Schrepfer, Jungunternehmerin des Jahres 2024 und Co-Gründerin des Freelancer-Pools WeNurse AG über Vorbilder, Gestaltungswillen, Fingerspitzengefühl und den Mut, Verantwortung zu teilen.
Competence Martina Greiter

Autorin

Martina Greiter

Redaktorin Competence deutsche Schweiz

martina.greiter@hplus.ch

Was bedeutet Leadership für Sie persönlich?

Agnèse Niederberger (AN): Aus meiner Sicht – ein gutes Vorbild sein, innovative Ideen entwickeln und die Bedürfnisse der Mitarbeitenden kennen. So kann ich sie begeistern, auf den eingeschlagenen Weg mitnehmen und gemeinsam mit ihnen Ziele erreichen. Als Leaderin muss man Menschen mögen.

Führen erfordert heute mehr Fingerspitzengefühl als früher – es ist spannender und herausfordernder geworden!

Agnèse Niederberger, CNO der Lindenhofgruppe

Alessia Schrepfer (AS): Die Vorbildfunktion einer guten Führungsperson ist zentral und schafft Vertrauen. Sie kommuniziert offen, auch wenn ihr Fehler unterlaufen. Dies ist nicht immer einfach in einem System, in dem zwar von Fehlerkultur gesprochen wird, aber immer noch teilweise eine Angstkultur herrscht.

Frau Niederberger, hat sich dieses Verständnis in den letzten Jahren verändert?

CNO der Lindenhofgruppe, Agnèse Niederberger (Foto: zvg)

AN: Es hat sich einiges verändert. Heute wünschen sich die Mitarbeitenden, in künftige Entwicklungen einbezogen zu werden. Es ist häufiger notwendig, sie durch Erklärungen und Diskussionen individuell abzuholen, um Identifikation zu schaffen. Dennoch ist es wichtig, sie bei Bedarf dazu zu motivieren, selbst Verantwortung zu übernehmen, die mit der vermehrten Mitsprache einhergeht. Insgesamt stelle ich fest, dass das Führen mehr Fingerspitzengefühl als früher erfordert – es ist spannender, aber auch herausfordernder geworden!

AS: Die gegenseitige Akzeptanz unter den Berufsgruppen ist meines Erachtens gestiegen. Die Fachhierarchien mit den Ärzten an der Spitze flachen ab. Flachere Hierarchien erfordern aber geteilte Verantwortung und geteiltes Machen – nicht nur wollen, sondern dann auch machen – dies ist aus meiner Sicht ein zentrales Motto.

Flachere Hierarchien erfordern geteilte Verantwortung und geteiltes Machen – nicht nur wollen, sondern dann auch machen.

Alessia Schrepfer, Jungunternehmerin des Jahres 2024

Frau Schrepfer, Sie sprechen von einer «unterschätzten Blockade» im Gesundheitswesen. Was meinen Sie damit?

Jungunternehmerin des Jahres 2024 und Pflegefachfrau FH mit Masterabschluss, Alessia Schrepfer (Foto: Melanie Knupp)

AS: Der Fachkräftemangel ist eine Tatsache. Ich stelle aber fest, dass nicht immer alle ihr volles Potenzial ausschöpfen, sei es aus Unwillen oder Unvermögen. Wenn wir das besser machen, können wird den Fachkräftemangel lindern. Ein Grund für diese Blockade sind unklare Abläufe, nicht unbedingt am Patientenbett, aber z.B. an Schnittstellen wie dem Bildungsbereich, in welchem die Entscheidungskompetenzen weniger klar geregelt bzw. weniger klar von der Personellen Führung abgegrenzt sind. Die Folge sind weniger Verantwortungsübernahme aufgrund von Unklarheiten. Zudem verhindert Gärtchendenken weiterhin, alle Potenziale zu nutzen. Es braucht Mut, diese Dinge anzusprechen und Neues anzupacken. 

Welche Rolle spielt dabei die Führung?

AS: Mir scheint, dass es z.B. auf Stationsleitungsstufe teilweise zu Fehlplatzierungen kommt, wenn Leute, aufgrund der geringen Auswahl – oder auch aus Prestigegründen – in diese Funktion hineinrutschen und dann nicht mehr herausfinden. Da wäre es zum Wohl aller Beteiligten notwendig zu schauen, wie diese Personen unterstützt und gefördert werden können. Es ist also wichtig, dass Führungspersonen von Anfang an wissen, worauf sie sich einlassen.  

Auch durch den Mangel an qualifizierten Fachpersonen müssen Führungspersonen heute kreativ gestalten und nicht nur verwalten können.

Agnèse Niederberger, CNO der Lindenhofgruppe

AN: Früher sind Mitarbeitende öfter einfach in Führungspositionen aufgestiegen, weil sie die Dienstältesten waren oder über das grösste Fachwissen verfügten. Das hat sich geändert. Auch durch den Mangel an qualifizierten Fachpersonen müssen Führungspersonen kreativ gestalten und nicht nur verwalten können. Eine umfassende Ausbildung für Führungspersonen ist meines Erachtens von zentraler Bedeutung.

Wie unterscheiden sich die Leadership-Anforderungen an Pflegefachpersonen gegenüber anderen Berufsgruppen im Spital?

AS: Es sollte keine Unterschiede geben. Was ich aber spannend finde, ist, dass gerade im Pflegebereich oftmals entsprechende Führungsausbildungen eingefordert werden, was bei z.B. Ärzt:innen nicht oder sehr selten der Fall ist.

Die alten Hierarchien sind überholt: Mit 30 Jahren war ich als Führungsperson mit Pflegehintergrund für die personelle Führung eines ganzen Ärzteteams verantwortlich.

Alessia Schrepfer, Jungunternehmerin des Jahres 2024

AN: Ich denke, Pflegende möchten – vielleicht etwas mehr als andere Berufsgruppen – in partizipative Prozesse eingebunden werden und mitgestalten. Sie engagieren sich stark in ihren Kernaufgaben: die gute und ganzheitliche Pflege und Betreuung von Patienten und Patientinnen. Dabei muss das Verständnis für die betriebswirtschaftlichen Aspekte wieder stärker geschaffen werden.

AS: Die alten Hierarchien sind überholt. Mit viel Engagement habe ich es erreicht, mit 30 Jahren den damals verantwortlichen Chefarzt davon zu überzeugen, als Führungsperson mit Pflegehintergrund ein ganzes Ärzteteam personell zu führen.

Führungspersonen müssen transparent kommunizieren, um die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu verbessern – hier mit dem Huddle-Board. (Foto: Rob Lewis/Lindenhofgruppe)

Welche Rolle spielen gegenseitiges Vertrauen und offene Kommunikation für die erfolgreiche Umsetzung von Veränderungen im Team?

AS: Offene Kommunikation hat viele Facetten. Es ist vertrauensfördernd, wenn alle wissen, dass sie sich mit jeglichen Themen an ihre Vorgesetzten wenden können und dann auch eine Antwort erhalten, wenn auch nicht immer die gewünschte.

AN: Oftmals bekommt man Vertrauen nicht einfach so geschenkt, es entsteht durch Beziehungspflege. Und hierfür gilt es insbesondere am Anfang, viel Zeit zu investieren.

Wie erleben Sie das Spannungsfeld zwischen effizienten Prozessen und dem Fokus auf Menschlichkeit und Teamkultur im Spitalbetrieb?

AS: Mit WeNurse versuchen wir, mehr unternehmerisches Denken und Agieren in die Branche zu bringen. Denn wenn es einem Betrieb gutgeht und die Patient:innen gut versorgt sind, dann kann der Betrieb auch mehr für das Personal machen.

Was bedeutet unternehmerisches Denken konkret?

AS: Anstatt einfach bei Dienststart loszurennen und in unnötigen Stress zu geraten, ist es wichtig, sich wirklich zu überlegen, wie man seinen Tag gestalten möchte – mit einem Mise en place. Zudem braucht es in der Pflege noch viel mehr wirtschaftliches Verständnis und Finanzwissen.

Viele Pflegende klagen über die hohe Arbeitsbelastung. Was sie vor allem belastet, sind ineffiziente Prozesse und Schnittstellen, die nicht funktionieren.

Agnèse Niederberger, CNO der Lindenhofgruppe

AN: Niemand hat etwas dagegen, Prozesse effizient zu gestalten. Viele Pflegende klagen über die hohe Arbeitsbelastung. Wenn ich aber genau hinhöre, stelle ich fest, dass es ineffiziente Prozesse sind, Schnittstellen, die nicht funktionieren, Unterbrechungen und unnötige Telefonate, die die Pflegenden vor allem belasten.

Was braucht es konkret, damit Leadership-Kultur im Spital wirklich gelebt wird?

AN: Unsere Geschäftsleitung gestaltet aktuell zwei Leadership-Tage. Ziel ist es, Leadership-Instrumente bekannt zu machen, aber auch unsere Werte, Haltung und Philosophie zu vermitteln. Solche Aktivitäten – mit einem Top-down-Ansatz – tragen sicher dazu bei, die gemeinsame Leadership-Kultur weiterzuentwickeln.

AS: Das sehe ich ähnlich. Wir haben überall wunderschöne Leitbilder, aber ich propagiere, nach dem Motto «Weniger ist mehr», lieber weniger zu versprechen, dafür das dann richtig zu machen. Alles beginnt mit dem Machen und dabei auch mal einen Fehler in Kauf zu nehmen und dann agil zu justieren.

(Junge) Führungskräfte sollten sich eingestehen, dass sie nie den Anspruch haben müssen, alles können zu müssen.

Alessia Schrepfer, Jungunternehmerin des Jahres 2024

Wo sehen Sie die wichtigsten Entwicklungspunkte für die nächste Generation von Führungskräften?

AN: Es braucht grosse Leidenschaft und viel Gestaltungswillen. Wir leben in einer sich schnell verändernden Welt, mit grossen Herausforderungen. Es braucht Passion und Energie, um sich immer wieder anzupassen und gemeinsam mit den besten Mitarbeitenden des Unternehmens in interprofessionellen Teams nach Lösungen zu suchen.

AS: Ich würde sagen, habt Mut für Veränderung, aber auch Mut, Verantwortung zu teilen und gesteht euch ein, dass ihr nicht alles könnt bzw. dass ihr nie den Anspruch haben müsst, alles können zu müssen. Das ist das Schöne im Gesundheitswesen, wir sind Teams im Dauerbetrieb und wir haben einen perfekten Rahmen, um tatsächlich Verantwortung teilen zu können.

Alessia Schrepfer (35) ist Pflegefachfrau FH mit abgeschlossenem Masterstudium. Sie hat jede Stufe der Pflegekarriere durchlaufen, von der Berufsausbildung bis zur Führungskraft. Doch anstatt sich mit den bestehenden Missständen abzufinden, wurde sie selbst zur Wegbereiterin in der Pflegebranche. 2022 gründete sie gemeinsam mit Simon Hodel die WeNurse AG – den ersten Freelancer-Pool für Pflegekräfte, der seinen Mitarbeitenden gehört. Im März 2024 wurde sie vom «Swiss Economic Forum» zur Jungunternehmerin des Jahres gekürt.
Info: https://wenurse.ch/


Agnèse Niederberger
ist seit Juli 2024 Chief Nurse Officer (CNO) und Mitglied der Geschäftsleitung der Lindenhofgruppe Bern. Nach mehrjähriger Tätigkeit als diplomierte Pflegefachfrau HF wie auch als Rettungssanitäterin und Dipl. Expertin Notfallpflege, war sie ab 2018 am Universitätsspital Zürich als Bereichsleiterin Pflege und medizinische, therapeutische und technische Berufe im ambulanten Bereich tätig. Sie verfügt über einen Master in Leadership and Management sowie über einen Executive MBA.

Beitragsbild: Mit kleinen Schritten täglich besser werden – Führungspersonen nutzen Kaizen im Arbeitsalltag. (Foto: Rob Lewis/Lindenhofgruppe)

   

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