Gregory Fretz (GF): Ich glaube, es tut uns allen gut, ein bisschen durchatmen zu können. Das spüre ich auch persönlich. In dieser Hinsicht ist der eingeschlagene Weg gut. Emotionalität und soziale Interaktionen sind sehr wichtig, auch für die Gesundheit. Auf der anderen Seite sehen wir aber auch, dass uns weiterhin sehr viele Personen in die Long-COVID-Sprechstunde zugewiesen werden, Betroffene, die im Januar oder Februar 2022 an Omikron erkrankt sind. Auch diese Variante kann länger andauernde Symptome hervorrufen, die in Richtung Long COVID gehen. Ob sie prognostisch ähnlich wie bei Delta ausfallen, ist noch ungewiss. Die Öffnung hat also auch Nachteile. Ich denke dabei insbesondere auch an Risikogruppen, ältere Leute, Immunsupprimierte, die nach wie vor ein Risiko für schwerere Verläufe haben.
Che Wagner (CW): Eine aktuelle Umfrage aus Grossbritannien weist darauf hin, dass nach Omikron-Infekten das Risiko, unter Long-COVID-Symptomen zu leiden ähnlich hoch ist, wie bei anderen Virusvarianten. Ich bin erstaunt, wie rasch das Thema COVID-19 in der Schweiz in den Hintergrund getreten ist. Man spricht kaum mehr darüber. Die Gefahr dabei ist, dass sich unsere Gesellschaft zu wenig mit der Ernsthaftigkeit der Krankheit und mit den Spätfolgen beschäftigt.
GF: Das wird wahrscheinlich nicht funktionieren, ohne dass wir akzeptieren, dass das Virus endemisch in der Bevölkerung zirkuliert. Was jedoch Long COVID betrifft, befinden wir uns momentan wohl in gewisser Hinsicht in einem Experiment.
GF: Wir haben wie gesagt anhaltend sehr viele Zuweisungen. Momentan warten Betroffene bis zum August auf ihren Termin, was verständlicherweise mit Frust verbunden ist, bei den Betroffenen und den Grundversorger:innen. Wir möchten aber bei der Qualität der Betreuung keine Abstriche machen und haben nun gewisse Massnahmen ergriffen, um Gegensteuer zu geben. Diese werden aber erst nach einer gewissen Zeit greifen.
Wir waren gemeinsam in der Pandemie und müssen auch gemeinsam wieder herausfinden.
Che Wagner
GF: Die grösste Prävention ist, COVID-19 nicht zu bekommen, indem man sich mit Maske, Hygienemassnahmen etc. schützt. Auch die Impfung reduziert das Risiko, nach einer Infektion an Long COVID zu erkranken. Die meisten Betroffenen, die uns gegenwärtig zugewiesen werden, sind geimpft. Erste Zahlen zeigen, dass die Impfung das Long-COVID-Risiko wahrscheinlich um 50 Prozent reduziert. Die Impfung wirkt aber nicht nur in der Prävention, sondern auch in der Behandlung. Ungeimpfte, die an Long COVID erkrankt sind, haben gute Chancen, dass sich ihre Symptome mit einer Impfung verbessern. Dies ist laut mehreren Studien bei zwei Dritteln der Fall. Bei 10 bis 15 Prozent verschlechtern sich die Symptome, die restlichen reagieren nicht auf die Impfung.
CW: Die Spitäler haben sicher den bestmöglichen Job gemacht. In allen grossen Zentren gibt es heute Anlaufstellen und Sprechstunden. Es stellen sich nun Fragen, wie man diese Struktkuren weiterplanen kann, ob sie ausgebaut werden müssen und wie das finanziert werden soll. Die Politik ist also gefragt.
GF: Geholfen hat, dass wir gelernt haben, Vernetzung viel besser als bisher zu leben, nicht nur im Spital, sondern auch mit anderen Spitälern und mit verschiedenen Berufsgruppen. Das ist in Zukunft entscheidend.
Gibt es auch in der Politik gewisse Ansätze?
CW: Ich stelle Politik und Verwaltung in Sachen Long COVID eine ungenügende Note aus. Schon im Winter 2020/21 haben viele Organisationen gemeinsam auf das Thema hingewiesen, aber es ist in der Folge wenig passiert. Sie gingen dann den Weg über das Parlament, das bereits im Frühling 2021 eine Motion an den Bundesrat überwies. Die Richtung, in die es gehen soll, ist schon lange klar. Notwendig ist eine Kohortenstudie, damit wir Long COVID und die Verläufe verstehen und wirksame Medikamente und andere Therapien erforschen können. Eine solche Langzeitstudie würde auch eine Chance bedeuten, Patient:innen zu begleiten. Die Arbeitsgruppe Long COVID, die nun endlich beim BAG gegründet wurde, hat die Aufgabe, neben anderen Projekten auch diese Kohortenstudie aufzugleisen.
Die meisten Betroffenen, die uns gegenwärtig in die Long-COVID-Sprechstunde zugewiesen werden, sind geimpft.
Dr. med. Gregory Fretz
CW: Und das ist eine verpasste Chance. Wir haben eine Aufgabe als Gesellschaft, genau hinzuschauen und die Betroffenen zu unterstützen. Wir waren gemeinsam in der Pandemie und müssen auch gemeinsam wieder herausfinden. Seit zwei Jahren wissen wir, dass es Spätfolgen gibt. Es ist bekannt, dass es bereits IV-Anmeldungen gibt, wobei die aktuelle Statistik mit Vorsicht zu geniessen ist. In der Schweiz ist es für viele Menschen ein Zeichen von Schwäche, sich bei der IV anzumelden. Sie tun dies oft erst, wenn die Krankentaggelder wegfallen. In einem Jahr wird die IV-Statistik wohl anders aussehen, speziell hierzulande, wo sich so viele Menschen mit COVID-19 angesteckt haben.
CW: Das ist eine wichtige Entwicklung, speziell für Hausärzt:innen sowie für Vertrauensärzt:innen von Krankenkassen. Ein besseres Verständnis der Krankheit hat eine moralische Wirkung und das Motto «Kennen wir nicht, machen wir nicht» verliert an Glaubwürdigkeit.
GF: Wir kennen postvirale Fatigue-Syndrome schon sehr lange. Long COVID ist wahrscheinlich pathophysiogisch sehr ähnlich, wenn nicht gleich. Eine wichtige Lehre scheint mir zu sein, dass man bei Long COVID versucht, rascher zu reagieren als dies bisher beim Chronischen Fatigue-Syndrom (CFS) der Fall war, ohne dabei Angst vor Long COVID zu schüren. Vielmehr kann mit gezielten Energie-Management-Massnahmen der Verlauf positiv beeinflusst werden und dadurch kann in vielen Fällen wohl vermieden werden, dass sich Long COVID oder auch andere Infekte zu einem CFS entwickeln, das mit einer Invalidisierung der Person einhergeht.
Dr. med. Gregory Fretz, Leitender Arzt und Leiter Medizinische Poliklinik,
Kantonsspital Graubünden (Foto: KSGR)
Che Wagner, Gründer Allianz Long Covid, www.long-covid.online (Foto: Stefan Bohrer)
Beitragsbild: christopher lemercier auf Unsplash