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15. August 2024

Stand by You Schweiz

 «Spitäler und Kliniken sollten Angehörige in die Arbeit miteinbeziehen»

Christian Pfister ist Co-Präsident der Angehörigenvereinigung Stand by You Schweiz (ehemals VASK Schweiz). Der Verein setzt sich für eine menschlichere psychiatrische Versorgung in der Schweiz ein und will die Solidarität unter den Angehörigen stärken und die Unterstützungsangebote für diese erweitern. Stand by You Schweiz ruft auch die Spitäler und Kliniken dazu auf, Angehörige besser mit einzubeziehen.
Competence Sarah Fogal

Autorin

Sarah Fogal

Redaktionelle Koordination Competence

sarah.fogal@hplus.ch

Die Erfahrungen und Wünsche von Angehörigen psychisch erkrankter Menschen erhalten von der Gesellschaft zu wenig Anerkennung. Wo liegen die zentralen Probleme?

Darauf gibt es keine einfachen Antworten – die Probleme sind vielfältig. Eine aktuelle Studie von Stand by You zeigt auf, dass über vier Millionen Menschen in unserem Land die Rolle von Angehörigen von Menschen mit psychischen Erkrankungen bereits einmal erlebt haben – über zwei Millionen von ihnen sind aktuell in dieser Rolle gefordert. Angehörige sind systemrelevant und entlasten das Gesundheitswesen durch ihr Engagement massiv. Dennoch war und ist das Thema kaum präsent. Es gab diesbezüglich bisher auch keine Daten. Angesichts der Bedeutung der Angehörigen ist das bemerkenswert – und auch ein Rätsel.

Christian Pfister, Co-Präsident der Angehörigenvereinigung Stand by You Schweiz

Viele Themen mögen da eine Rolle spielen: so die Diskriminierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und damit ihres Umfelds, die allenthalben zu spürende Überforderung des Systems und der Gesellschaft, mit den vermehrten Erkrankungen umzugehen und – insbesondere im Jugendbereich – adäquat und wirksam zu reagieren. Zudem stehen viele Angehörige ihren erkrankten Lieben bei, ohne sich ihrer Rolle bewusst zu sein. Scham spielt eine grosse Rolle, dass viele ihre Rolle im Stillen, oft allein wahrnehmen. Und da sollten wir ansetzen: Ein Drittel der Angehörigen erkrankt aufgrund der enormen Belastung selbst. Wir tun also gut daran, Angehörige und Vertrauenspersonen zu unterstützen und Hilfe zur Verfügung zu stellen, um zu verhindern, dass sie selbst erkranken. Arbeit mit und für Angehörige ist so gesehen auch Präventionsarbeit.

Und da sollten wir ansetzen: Ein Drittel der Angehörigen erkrankt aufgrund der enormen Belastung selbst.

Was können Spitäler und Kliniken tun, um Angehörigen mehr Gehör und Unterstützung zu verschaffen?

Das ist im Vergleich zur ersten Frage einfacher zu beantworten. Für Spitäler und Kliniken müsste gelten, dass sie Angehörige und Vertrauenspersonen einbeziehen, ihre Erfahrung anerkennen und wertschätzen, immer fragen, was diese brauchen, damit sie ihre Rolle gut wahrnehmen können. Spitäler und Kliniken müssten sich dafür einsetzen, die sozialpsychiatrischen Angebote für Betroffene und Angehörige im Alltag ausserhalb der Kliniken auszubauen. Mich als Angehörigen macht es beispielsweise traurig und wütend, dass es noch keine Selbstverständlichkeit ist, angehörigen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sofort zur Seite zu stehen, wenn ein Familienmitglied, zum Beispiel die Mutter oder der Vater, in eine Klinik müssen. Diesen jungen Angehörigen kein Hilfsnetz anzubieten, sich nicht um sie zu kümmern, ist grobfahrlässig. Das sollten wir als Gesellschaft nicht hinnehmen.

Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen kein Hilfsnetz anzubieten, wenn beispielsweise ein Elternteil in eine Klinik muss, ist grobfahrlässig.

Mit der Unterstützung von Angehörigen können Gesundheitskosten eingespart werden – auch bei den Spitälern und Kliniken?

Selbstverständlich. Wenn Angehörige und Vertrauenspersonen ihren Dienst quittieren würden, würde das System zusammenbrechen. Die eingesparten Kosten, die Angehörige mit ihrer unbezahlten Arbeit leisten, gehen in die Milliarden. Betrachten wir die zwei Millionen erwachsenen Menschen, die zurzeit die Angehörigenrolle ausfüllen. Die meisten davon sind täglich gefordert, wenn ihre Lieben in einer Krise sind. Nehmen wir zurückhaltend an, dass dafür vom Angehörigen, von der Angehörigen zwei Stunden pro Tag aufgewendet werden. Das wären dann vier Millionen Arbeitsstunden pro Tag. Man rechne…. Fast zwei Drittel der befragten psychisch Erkrankten sagen in unserer Studie, dass sie das Gesundheitssystem mehr hätten in Anspruch nehmen müssen, wenn ihnen nicht die Angehörigen und Vertrauenspersonen beigestanden wären. Angehörige zu befähigen, ihre Rolle gut wahrzunehmen, würde die Kosten weiter senken.   

Wenn Angehörige und Vertrauenspersonen ihren Dienst quittieren würden, würde das System zusammenbrechen.

Die psychiatrische Versorgung in der Schweiz befindet sich in einer Krise – es hat zu wenig Behandlungsplätze. Inwiefern kann die Integration von Angehörigen mithelfen, diese Krise zu meistern?

Angehörige sind bereits tagtäglich daran, die Krise fernab der Öffentlichkeit und der gesundheitsökonomischen Diskussionen zu meistern. Es ist bewundernswert, wie sie immer wieder Wege und Kraft finden, um ihren Angehörigen beizustehen. Angehörige sind also mitten drin und insofern voll «integriert» – auch wenn das kaum gesehen, diskutiert und wertgeschätzt wird. Das Problem wird sich durch Wegschauen nicht von allein lösen. Wir brauchen Veränderung, ja soziale Innovation. Das mögen Kliniken wohl nicht gerne hören: Der Lösungsweg führt nicht daran vorbei, sozialpsychiatrische und ambulante Angebote für Betroffene und Angehörige auszubauen. Angebote sind gefragt, die sich nicht nur an ein paar Wochen Akutpsychiatrie, sondern am ganzen Lebensweg eines betroffenen Menschen ausrichten. Als Angehörigenbewegung Stand by You Schweiz wollen wir hierzu einen Beitrag leisten. 

Der Lösungsweg führt nicht daran vorbei, sozialpsychiatrische und ambulante Angebote für Betroffene und Angehörige auszubauen.

Stand by You Schweiz will mithelfen, die Psychiatrie menschlicher zu machen. Wo sehen Sie Potenzial?

Ich konnte dazu schon einiges sagen. Vielleicht abschliessend nur noch eine Bemerkung: Die steigenden Zahlen junger Betroffener, der Fachkräftemangel in den Psychiatrieberufen, die steigenden Kosten im Gesundheitswesen und eine wachsende Bevölkerung in der Schweiz werden die Krise noch verschärfen. Hier Lösungen zu finden ist alles andere als trivial. Es braucht das ganze Dorf, um aus der Krise herauszufinden. Wir Angehörigen sind Teil der Lösung. Unser Kompass ist das Wohl unserer Lieben, die Menschlichkeit. Wir wollen, dass unsere Betroffenen Teil der Gesellschaft sind und ein gutes Leben führen können.

Es braucht das ganze Dorf, um aus der Krise herauszufinden. Wir Angehörigen sind Teil der Lösung.

Sie sind Co-Präsident von Stand by You Schweiz und selbst Angehöriger eines psychisch erkrankten Menschen. Was hätte Ihnen in dieser Rolle in der Vergangenheit am meisten geholfen?

Ich wurde als Jugendlicher ein Angehöriger. Mein Vater kämpfte mit einer psychischen Erkrankung und musste ab und zu in die Klinik. Das war in den 70er-Jahren. Das Thema wurde totgeschwiegen. Vor 14 Jahren kam es wieder in mein Leben, als meine Tochter erkrankte. Ich hatte Glück und konnte mir immer selbst helfen. Indes bin ich noch heute erstaunt, wie wenig sich bezüglich der Angehörigenperspektive verändert hat. Wir werden marginalisiert, allein gelassen – und doch landet letztlich alles, was das System nicht zu tragen in der Lage ist, auf unseren Schultern. Es ist höchste Zeit für einen menschlicheren und wirksameren Umgang mit diesem Thema.  

Stand by You Schweiz vertritt die Interessen der Angehörigen und Vertrauten im psychiatrischen System sowie auf politischer Ebene und nimmt Einfluss auf die Diskussion zur psychiatrischen Versorgung. Das übergeordnete Ziel besteht darin, die Wirksamkeit und Menschlichkeit der Psychiatrie in der Schweiz zu verbessern, was angesichts der aktuellen Krise nur im Zusammenspiel aller Beteiligten – Betroffene, Fachpersonen, Angehörige, Politik und finanzielles Versorgungssystem – und mit einer ganzheitlichen, systemischen Zusammenarbeit gelingen kann.

Stand by You Schweiz setzt sich zum Ziel, Personen, Vereine, Institutionen und Berufsleute wie Berufsgruppen, die sich mit der Angehörigenperspektive beschäftigen, zu vernetzen und in den gegenseitigen Dialog zu bringen. Stand by You bietet für Angehörige verschiedene Hilfestellungen an, die auch von Spitälern und Kliniken genutzt werden können.

Beitragsbild: Pixabay

   

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