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10. März 2022

Für eine starke Pflege

Sicht von H+

Pflegeinitiative – wie weiter?

Mit einem Ja-Anteil von 61 Prozent hat die Stimmbevölkerung die Pflegeinitiative Ende 2021 angenommen. Der Ball liegt nun beim Bundesrat, anschliessend beim Parlament. Eine erste Standortbestimmung vor der nächsten Ausgabe von Competence, in welcher wir Anfang April die Standpunkte verschiedener Akteure einander gegenüberstellen werden.
Competence Markus Trutmann

Autor

Markus Trutmann

Leiter Geschäftsbereich Politik, Mitglied der Geschäftsleitung, H+ Die Spitäler der Schweiz

markus.trutmann@hplus.ch

Die Pflegeinitiative wurde am 17. Januar 2017 lanciert und am 7. November 2017 mit über 114 000 beglaubigten Unterschriften bei der Bundeskanzlei eingereicht. Diese in Rekordzeit zustande gekommene Initiative traf den Nerv der Zeit. Eine breite Öffentlichkeit nahm, betroffen wie besorgt, zur Kenntnis, dass der steigende Pflegebedarf der älter werdenden Bevölkerung bereits in naher Zukunft nicht mehr ausreichend gedeckt sein würde und dass dringend etwas dagegen unternommen werden müsse. Die COVID-19-Krise tat das ihrige dazu, um die zentrale Bedeutung der Pflegenden im Gesundheitswesen endgültig ins Bewusstsein von Herrn und Frau Schweizer zu rücken. Das Parlament erkannte den Handlungsbedarf und verabschiedete einen indirekten Gegenvorschlag, der zentrale Anliegen der Pflegeinitiative aufnahm. Für die Initiant:innen ging aber der Gegenvorschlag nicht weit genug, weshalb sie entschieden, die Initiative nicht zurückzuziehen und zur Abstimmung zu bringen.

Das Wichtigste in Kürze

Die Pflegeinitiative wurde am 28. November 2021 von 61 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger und – mit Ausnahme von Appenzell Innerrhoden – von sämtlichen Kantonen angenommen. Für die Umsetzung des neuen Verfassungsartikels wird der Bundesrat einen Gesetzesentwurf vorlegen, den das Parlament innerhalb der nächsten vier Jahre beraten und verabschieden muss. Parallel dazu hat der Bundesrat 18 Monate Zeit, Übergangsbestimmungen zu erlassen. Der Bundesrat will die Pflegeinitiative in zwei Etappen umsetzen. In einer ersten Phase soll der indirekte Gegenvorschlag unverändert wieder aufgenommen werden. Zu diesem Paket zählen die Ausbildungsoffensive und die Kompetenzerweiterung des Pflegepersonals bei der direkten Abrechnung mit den Krankenkassen. Hingegen werden Forderungen nach anforderungsgerechten Arbeitsbedingungen und einer angemessenen Abgeltung längere und vertiefte Abklärungen benötigen. Diese sollen deshalb in einer zweiten Etappe umgesetzt werden.

H+ wird sich wie schon bei der Beratung des indirekten Gegenvorschlags mit konstruktiven Vorschlägen in die Debatten einbringen. Letztlich werden die finanziellen und tarifarischen Rahmenbedingungen entscheidend sein, um bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen. Solange die Tarife die Kosten von effizient erbrachten Leistungen nicht decken, wie dies heute im stationären und noch vermehrt im ambulanten Bereich der Fall ist, sind alle Bemühungen zur Umsetzung der Pflegeinitiative zum Scheitern verurteilt.

Fairer Abstimmungskampf

H+ setzte sich im Abstimmungskampf für den indirekten Gegenvorschlag ein, weil die Anliegen der Pflegeinitiative auf diese Weise rascher hätten umgesetzt werden können. Anfängliche Bedenken, dass das Eintreten von H+ für den indirekten Gegenvorschlag falsch verstanden werden könnte, verflogen während des Abstimmungskampfes. An den zahlreichen Anlässen, Podiumsgesprächen und Fernsehsendungen, an welchen Vertreterinnen und Vertreter von H+ ihren Standpunkt erklären konnten, gelang es problemlos, die Vorteile des indirekten Gegenvorschlags verständlich zu machen. Es war H+ ein grosses Anliegen, sich den kritischen Fragen der Bevölkerung, aber auch der Pflegenden, zu stellen, und so seine Verantwortung als Arbeitgeberorganisation wahrzunehmen. Entsprechend versöhnlich verlief der Abstimmungssonntag, an dem H+ den Initiant:innen für den historischen Abstimmungserfolg gratulierte und sich zwei Lager die Hand reichten, die keine Gegner gewesen, sondern für eine unterschiedliche Umsetzung der gleichen Anliegen eingetreten waren.

Bundesrat und Parlament am Ball

Mit Annahme der Volksinitiative liegt der Ball nun beim Bundesrat. Auf der Grundlage des neuen Artikels 117c «Pflege» der Bundesverfassung wird der Bundesrat zur Umsetzung einen Gesetzesentwurf vorlegen, den das Parlament innerhalb der nächsten vier Jahre beraten und verabschieden muss. Parallel dazu hat der Bundesrat 18 Monate Zeit, die Übergangsbestimmungen gemäss Art. 197 Ziff. 12 des Initiativtextes zu erlassen.

Die Umsetzung des Volksentscheids über die Pflegeinitiative soll in zwei Schritten erfolgen: zuerst die Ausbildungsoffensive und die Erweiterung der Kompetenzen bei der direkten Abrechnung mit den Krankenkassen, dann die Arbeitsbedingungen und die Entlöhnung. (Foto: SBK – Peter Schäublin)

Der Bundesrat entschied am 12. Januar 2022, dass die Umsetzung der Pflegeinitiative in zwei Etappen erfolgen soll. In einer ersten Etappe sollen Elemente des indirekten Gegenvorschlags betreffend Ausbildungsoffensive und Kompetenzerweiterung der Pflegefachpersonen bei der direkten Abrechnung mit den Krankenkassen rasch und ohne Vernehmlassung wieder aufgenommen werden. Hingegen würden Forderungen nach anforderungsgerechten Arbeitsbedingungen und einer angemessenen Abgeltung längere und vertiefte Abklärungen benötigen. Diese sollen in einer zweiten Etappe umgesetzt werden. Der Bundesrat hat das BAG beauftragt, gemeinsam mit dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO), dem Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) und dem Bundesamt für Justiz (BJ) die Zuständigkeiten für das weitere Vorgehen zu klären. Das BAG hat bereits eine Gesamtprojektleitung für die Umsetzung der Pflegeinitiative eingesetzt.

Solange die Tarife die Kosten der effizient erbrachten Leistungen nicht decken, wie es heute im stationären und noch mehr im ambulanten Bereich der Fall ist, werden alle Bemühungen zur Umsetzung der Pflegeinitiative vergeblich sein.

Chancen und Stolpersteine

Sowohl die Initiant:innen wie auch die Befürwortenden des indirekten Gegenvorschlags waren sich einig, dass bereits heute ein Nachwuchsmangel in der Pflege besteht. Gemäss Nationalem Versorgungsbericht des Gesundheitsobservatoriums (Obsan) vom September 2021 konnte der Bestand des Pflege- und Betreuungspersonals in den Gesundheitsinstitutionen von 2012 bis 2019 um rund 20 Prozent gesteigert werden. Diese Anstrengungen genügen jedoch nicht. Von 2019 bis 2029 werden bei den Abschlüssen auf Sekundarstufe II nur 80 Prozent des Bedarfs gedeckt werden können. Auf Tertiärstufe sind dies sogar nur 67 Prozent. Im Tertiärbereich verfügt ein Anteil von 30 Prozent der Berufstätigen über ein ausländisches Diplom.

Keine Abstriche bei der Bildungsoffensive

Für die Ausbildungsoffensive hatte das Parlament im indirekten Gegenvorschlag einen Kreditrahmen von 938 Millionen Franken definiert. An diesen Beitrag hätten sich die Kantone und der Bund zur Hälfte beteiligen sollen. Dabei hatte sogar der Ständerat zugestimmt, dass alle Kantone mitmachen müssen. H+ wird sich in den kommenden Debatten dafür einsetzen, dass dieser grosszügige Vorschlag vom Parlament ohne Abstriche verabschiedet wird. Allenfalls wird zu überlegen sein, ob die Kantone noch stärker in die Pflicht genommen werden können, als dies im indirekten Gegenvorschlag der Fall war.

Ausweitung der Abrechnungskompetenzen: bereits Widerstand

Bei der Beratung des indirekten Gegenvorschlags erwies sich die Kompetenzerweiterung des Pflegefachpersonals im Abrechnungsbereich als pièce de résistance. Der Bundesrat und ein Teil des Parlaments wollten von einer solchen Kompetenzerweiterung wegen einer möglichen Kostenexplosion nichts wissen. Schliesslich kam eine Kompromisslösung zustande, die vorsah, dass die Verbände der Leistungserbringer und der Versicherer die Mengenentwicklung überwachen und bei ungerechtfertigtem Wachstum Massnahmen vereinbaren sollen. Die Kompetenzerweiterung soll nun wie die Ausbildungsoffensive in einer ersten Phase beraten und übernommen werden. Doch in den Gesundheitskommissionen sind bereits erste Widerstände gegen diese Lösung festzustellen. Dass das Parlament den indirekten Gegenvorschlag «durchwinken» würde, wie sich das einige Optimisten erhofften, dürfte sich leider als Illusion erweisen.

Entlöhnung und Arbeitsbedingungen: eine harte Nuss

Die Forderungen der Pflegeinitiative nach einer angemessenen Abgeltung der Pflegeleistungen und anforderungsgerechten Arbeitsbedingungen werden erwartungsgemäss Kopfzerbrechen bereiten. Wie der Bundesrat in seiner Medienmitteilung vom 12. Januar 2022 zu Recht feststellte, liegen diese Themen hauptsächlich in der Zuständigkeit der Kantone, der Betriebe und der Sozialpartner, d. h. der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände. Die Frage wie der Bund in diese verfassungsmässig garantierten Zuständigkeiten eingreifen kann, wird die mit einer Lösungsfindung beauftragten Behörden vor grosse Herausforderungen stellen. H+ wird seine Kompetenzen und Erfahrungen als Arbeitgeberorganisationen gerne zur Verfügung stellen. Es sei hier mit aller Deutlichkeit festzuhalten, dass die finanziellen und tarifarischen Rahmenbedingungen letztlich entscheidend sein werden, um bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen. Solange die Tarife die Kosten von effizient erbrachten Leistungen nicht decken, wie dies heute im stationären und noch vermehrt im ambulanten Bereich der Fall ist, werden alle Bemühungen zur Umsetzung der Pflegeinitiative vergeblich sein.

Beitragsbild: Hélène Tobler

   

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