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4. Februar 2022

Focus Impfungen

Epidemiologin der Universität Bern

«Mit Nextstrain verfolgen wir Virenmutationen weltweit»

Die Molekularepidemiologin Emma Hodcroft arbeitet am Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM) der Universität Bern. Mit Nextstrain, einer Open-Source-Plattform, welche die Entwicklung von Sars-CoV-2-Mutationen verfolgt, sorgt die 35-Jährige für Aufmerksamkeit.
Competence Sarah Fogal

Autorin

Sarah Fogal

Redaktionelle Koordination Competence

sarah.fogal@hplus.ch

Sie haben die globale Open-Source-Plattform Nextstrain mitentwickelt. Wie funktioniert sie?

Bei Nextstrain untersuchen wir die Genetik von Viren, um zu sehen, wie sie sich weltweit verbreiten und mit der Zeit verändern. Jedes Virus, das sich von Mensch zu Mensch überträgt, macht beim Kopieren winzige Fehler, sogenannte Mutationen. Wir beobachten, welche Viren gemeinsame Mutationen haben, welche sich unterscheiden und erstellen daraus einen Virenfamilienstammbaum. Auf diese Weise können wir, anhand der bei Patient:innen gemachten Abstriche, das Virus im Verlauf der Zeit verfolgen. So können wir auch nach Mutationen Ausschau halten, die bedenklich sein könnten und die entsprechenden Varianten identifizieren und verfolgen. Nextstrain gibt es bereits seit 2015. Wir haben in der Vergangenheit mit vielen anderen Viren gearbeitet, wie beispielsweise Grippe-, Masern- und Zika-Viren.

Welche Rolle spielen darin die Schweizer Spitäler?

Bei Nextstrain sammeln wir die Virusproben nicht selbst. Dafür sind wir auf Ärzt:innen, Forschende und Wissenschaftler:innen auf der ganzen Welt angewiesen. Wenn einer Patient:in ein Abstrich für einen PCR-Test entnommen wird, kann dieser oft auch für die Entschlüsselung der entsprechenden Genetik des Virus verwendet werden. Forschende können die Resultate auf die Nextstrain-Platform hochladen und mit anderen Wissenschaftler:Innen auf der ganzen Welt teilen. Die Daten benötigen wir dann für unsere Analysen. In der Schweiz haben wir das Glück, über ein vom Bund unterstütztes Programm für die genetische Sequenzierung des Coronavirus zu verfügen. Proben, die schweizweit in Spitälern und anderen Gesundheitsinstitutionen entnommen werden, können so sequenziert werden. Die Sequenzen wiederum werden auf Nextsrain zur Verfügung gestellt, so dass Forschende in der Schweiz und auf der ganzen Welt sie zur Bekämpfung von SARS-CoV-2 nutzen können.

Wie ist die aktuelle Situation aufgrund von Omikron einzuschätzen? Macht es Ihnen mehr Sorgen als Delta?

Ja, wegen der Geschwindigkeit der Ausbreitung. Omikron kann den Immunschutz umgehen, vor allem, wenn man nicht geboostert ist. Die Impfung schützt immer noch sehr gut vor einer schweren Erkrankung, aber nicht ganz so gut wie zuvor. Wenn viele Menschen gleichzeitig infiziert sind, helfen uns auch mildere Verläufe nicht. Wenn die Prozentzahl der Erkrankten, die hospitalisiert werden müssen, sich halbiert, die Anzahl der Fälle aber sechsmal höher ist, brauchen extrem viele Menschen gleichzeitig eine Behandlung. Für die Spitäler zählt die reine Anzahl, nicht der Prozentsatz.

Was ist in Zukunft zu erwarten betreffend COVID-19 und auch andere Seuchen?

Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Ich glaube leider nicht, dass wir SARS-CoV-2 ausrotten werden. Ich denke, dass das Virus endemisch wird, hoffe jedoch, dass es wie ein normales saisonales Erkältungsvirus sein wird, das zwar lästig ist, über das wir uns aber im Allgemeinen keine Sorgen machen müssen. Mit den Impfungen, die wir haben, ist das Virus bereits viel weniger schädlich. Es kann sein, dass gefährdete Personen von Zeit zu Zeit eine Auffrischungsimpfung benötigen werden und der Rest von uns dem Virus immer wieder ausgesetzt sein wird, jedoch ohne grosses Risiko.

Welche Lehren soll man allgemein aus der COVID-19-Pandemie ziehen?

Ich denke, wir haben bei dieser Pandemie gelernt, dass wir flexibel bleiben müssen, auch um bestimmte Massnahmen zu ergreifen. Am Anfang haben wir gezögert und gehofft, dass es uns vielleicht nicht treffen würde. Dann haben wir ein paar Mal gehofft, dass die verschlechterte Situation sich von allein verbessern würde, aber damit waren wir nicht besonders erfolgreich. Wir haben gelernt, dass die Sicherheit der Menschen und der Wirtschaft Hand in Hand gehen. Wenn also die Zahl der Fälle niedrig gehalten wird und die Spitäler nicht unter Druck kommen, können wir alle ein normaleres Leben führen. Es braucht jedoch eine offene Diskussionen zwischen Wissenschaft und Politik.

Wie lange geht das nun noch so weiter?

Die Antwort darauf hängt stark davon ab, wie viel Wandlungsfähigkeit dem Coronavirus zuzutrauen ist. Nach 18 Monaten Pandemie ist dies schwer zu sagen, denn diese Zeitspanne ist evolutionsbiologisch betrachtet ziemlich kurz. Jahr für Jahr passen sich die Viren an. Das menschliche Immunsystem lernt dazu. Wieder passen sich die Viren an. Es ist wie ein Tanz, ein Gleichgewicht, das sich immer wieder neu einpendelt.

Emma Hodcroft ist eine britisch-US-amerikanische Molekularepidemiologin an der Universität Bern. (Foto: Oliver Hochstrasser)