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18. August 2022

Background

COVID-19-Pandemie: Kinder- und Jugendpsychiatrie

«Jugendliche waren solidarisch mit vulnerablen Personen»

Prof. Dr. med. Alain Di Gallo ist Klinikdirektor an der Klinik für Kinder und Jugendliche der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK) und stellt fest: «Jugendliche haben stark unter der Pandemie
gelitten. Gleichzeitig haben sie sich enorm solidarisch mit vulnerablen Personen gezeigt.»
Competence Sarah Fogal

Autorin

Sarah Fogal

Redaktionelle Koordination Competence

sarah.fogal@hplus.ch

Die COVID-19-Pandemie hat insbesondere auch Kinder und Jugendliche schwer getroffen. Der Chef der bernischen Jugendpsychiatrie, Prof. Dr. med. Michael Kaess, spricht in Bern von einem Versorgungnotstand und Triage. Ist die schwierige Situation in Bern in der ganzen Schweiz vorzufinden?

Ja. Die Situation ist in der ganzen Schweiz ähnlich. Es gibt bereits Studien, die zeigen, dass Kinder und Jugendliche von allen Altersgruppen unter den Folgen der Pandemie psychisch am meisten gelitten haben. Sie haben bei Coronainfektionen zwar selten schwerwiegende Verläufe, psychisch ist es aber eine andere Situation: Jugendliche haben unter der Isolation und Einsamkeit gelitten, die der Lockdown im Frühling 2020 und die weiteren Einschränkungen ausgelöst haben. Sie haben ein Stück Leben verpasst, haben sich Sorgen um den Verlust von Freundschaften gemacht. In der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen passiert in zwei Jahren enorm viel. Sie mussten in der Pandemie ihre sozialen Kontakte stark einschränken, Distanz halten, gingen zeitweise nicht zur Schule und konnten auch ihren Hobbies weniger nachgehen. Insgesamt möchte ich festhalten: Jugendliche haben sich enorm solidarisch verhalten mit vulnerablen Personen; die meisten Jugendlichen haben sich vorbildlich an die Massnahmen gehalten.

Prof. Dr. med. Alain Di Gallo, Klinikdirektor UPK (Foto: zvg)

Wie haben Sie die Situation in der Klinik Basel erlebt?

Um zu verstehen, wie es den Kindern und Jugendlichen geht, muss man immer auch ihr soziales Umfeld betrachten. Die Familie als ganzes System war in der Pandemie gefordert: Eltern haben sich Sorgen um sich selbst, ihre Arbeit und die ältere Generation gemacht. Sie waren einerseits haltsuchend in ihren eigenen Gefühlen und andererseits haltgebend für ihre Kinder. Letztere haben diesen Stress hautnah mitbekommen und zum Teil darunter gelitten. Im Herbst 2020 hat es eine deutliche Zunahme von Notfall- und Krisenanmeldungen gegeben, etwa 40 Prozent mehr als im Vorjahr. Es gibt dazu aber gesamtschweizerisch keine genauen Zahlen und auch noch keine valide Studie. Zu Beginn der Pandemie hat der Lockdown in den Schulen teilweise auch Entlastung gebracht: der Leistungsdruck oder Mobbingprobleme waren beispielsweise in manchen Fällen kurzfristig weg, aber die Probleme waren damit natürlich nicht aufgehoben, sondern aufgeschoben. Der Druck bei den Betroffenen hat im Herbst 2020 dann wieder zugenommen. Bei Kindern haben wir vor allem Verhaltensauffälligkeiten und Hyperaktivität beobachtet, sie konnten ja lange kaum Sport treiben und nur beschränkt draussen spielen; wo sollten sie hin mit all ihrer Energie? Bei Jugendlichen haben hingegen besonders Angststörungen, Depressionen und psychosomatische Probleme zugenommen. Auch Suizidalität trat häufiger auf, wie unter anderem eine Studie aus Zürich festgestellt hat. Diese Situation führte zu vielen Kriseninterventionen und erforderte starke Aufmerksamkeit. Ob auch die Zahl der Suizide zugenommen hat, wissen wir nicht, da noch keine Zahlen vorliegen.

Herr Kaess spricht von der Auslastung des Notfallzentrums von 300 Prozent. Mehrere hundert Jugendliche seien auf der Warteliste, es gehe bis zu einem Jahr, bis sie einen stationären Platz erhalten würden. Wie ist die Situation anderenorts?

Es ist schwierig, von einer generellen Warteliste zu sprechen. Die Zunahme der Anmeldungen hat dazu geführt, dass wir sorgfältig beurteilen mussten, wer zuerst Hilfe benötigt. Es gab also viele Wartelisten mit unterschiedlichen Dringlichkeiten. Notfälle konnten wir dank zusätzlichen Ressourcen immer sofort meistern. Warten mussten jene Kinder und Jugendliche, die sich regulär angemeldet hatten und als nicht dringend eingestuft wurden; für eine ambulante Abklärung lag die Wartezeit zeitweise bei fast einem halben Jahr. Normalerweise beträgt die Frist bei uns rund sechs Wochen. Erfahrene Mitarbeitende haben alle Betroffenen auf der Warteliste angerufen, um abzuklären, wie sich die Situation entwickelt hat. Das hat für manche Familien bereits zu einer Entlastung geführt. Die Telefongespräche haben auch gezeigt, dass nicht alle Betroffenen unsere Angebote benötigten. In diesen Fällen haben wir auf andere Stellen verwiesen. Wir haben auch niederschwellige Gruppenangebote für Jugendliche und Eltern geschaffen, damit wir mit unseren Ressourcen mehr von ihnen erreichen konnten.

In der Kinderpsychiatrie ist es unsere Aufgabe, immer das Umfeld im Auge zu behalten und dort hinzugehen, wo die Hilfe nötig ist. Kinder und Jugendliche sollen möglichst in ihrer gewohnten Umgebung bleiben. Stationäre Aufnahmen nehmen wir nur vor, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Wir bieten auch sogenannte Home-Treatments an, in diesem Fall werden Kinder und ihre Familien zuhause aufgesucht. Auch arbeiten wir eng mit Heimen und anderen sozialpädagogischen Institutionen zusammen.

Die Schweiz ist zurück in der normalen Lage, was bedeutet dies für die Psychiatrie?

Die Intensivstationen der Akutspitäler sind nicht mehr ausgelastet und die Hospitalisationen gehen zurück. In der Psychiatrie ist die Situation eine andere. Die psychische Belastung steht nicht in direktem Zusammenhang mit der Anzahl Infektionen und dem Impfstatus der Bevölkerung. Schon vor COVID-19 hat die psychiatrische Inanspruchnahme durch die Menschen in der Schweiz zugenommen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Einerseits gehen wir davon aus, dass die Stigmatisierung psychischer Leiden etwas zurückgegangen ist und therapeutische Hilfe eher in Anspruch genommen wird. Wir sind als Gesellschaft aber auch aufmerksamer geworden in Bezug auf psychische Erkrankungen. Andererseits ist die heutige Zeit anspruchsvoll und schnelllebig, gerade für Jugendliche. Die Allgegenwärtigkeit der Medien, der zunehmende Zeitdruck, der Klimawandel und jetzt der Krieg in der Ukraine verunsichern viele junge Menschen. Bereits vor der Pandemie litten 10-15 Prozent der Kinder und Jugendlichen innerhalb eines Jahres an einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung, während der Pandemie waren es wohl 15–20 Prozent. Das ist nochmals eine enorme Zunahme. Was man aber auch sagen muss: Vier von fünf Jugendlichen meisterten die Belastungen gut und einige von ihnen ziehen sogar einen Nutzen für ihre Entwicklung daraus.

Wo sehen Sie für die Zukunft Bedarf?

Die letzten beiden Jahre haben gezeigt, dass es einen Mangel gibt an psychiatrischen Angeboten für Kinder und Jugendliche. Das hat eine Studie bereits im Jahr 2016 festgestellt. Positiv ist sicher, dass Psycholog:innen ab dem Sommer 2022 ärztlich angeordnete Psychotherapien über die Grundversicherung abrechnen können. Gleichzeitig müssen wir uns dringend um den psychiatrischen Nachwuchs kümmern, das Durchschnittalter bei den Psychiater:innen in der Praxis liegt aktuell bei rund 55 Jahren. Wir müssen die Faszination dieses Berufs besser vermitteln und er muss attraktiver gemacht werden, auch lohnmässig.

Dieses Interview wurde im April 2022 geführt.

Beitragsbild: zvg – Universitäre Psychiatrische Dienste Bern (UPD)