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7. November 2024

Interview

«Ich hätte gerne mehr Zeit für Personen, die in einer Krise stecken»

In einem eng getakteten Alltag mit vielen Pflichten sucht Nadia Michel immer wieder Zeit für Gespräche mit ihren Patient:innen. Die 31-jährige Pflegefachfrau HF arbeitet in der Klinik Südhang in Kirchlindach BE: «Wir leben in einer Gesellschaft mit hohem Leistungsdruck. Gerade die fehlende Zeit ist oft Auslöser für den Konsum von Alkohol und Drogen.»
Competence Sarah Fogal

Autorin

Sarah Fogal

Redaktionelle Koordination Competence

sarah.fogal@hplus.ch

Frau Michel, wie hat sich Ihre Arbeit als Pflegefachperson seit Ihrem Berufseinstieg verändert? Was sind aktuell die zentralen Herausforderungen?

Im Vergleich zu früher ist der Fachkräftemangel stark spürbar. Aus fachlicher Sicht ist die Arbeit in unserem Bereich ebenfalls anspruchsvoller geworden. Einerseits nimmt die Zahl psychischer Erkrankungen massiv zu und andererseits sind die Diagnosen komplexer geworden. So geht beispielsweise eine Suchterkrankung oft einher mit einer psychischen Erkrankung, hinzu kommen somatische Diagnosen wie beispielsweise eine Leberzirrhose, eine Erkrankung der Bauchspeicheldrüse oder der Nieren.

Welche Rolle spielte dabei der Faktor Zeit in Ihrer Arbeit?

Allgemein in der Pflege, aber insbesondere in der Arbeit mit Patient:innen, die eine psychiatrische oder Suchtdiagnose haben, sind Gespräche zentral und ich wünsche mir mehr Zeit dafür. Es ist schwierig, Patient:innen abzuwimmeln oder zu vertrösten, die ein Gespräch benötigen, weil ich unter Zeitdruck bin respektive schon beim nächsten Patienten sein muss oder bereits die nächste Aufgabe ansteht. Ich hätte gerne mehr Zeit, um Personen, die gerade in einer Krise stecken, beispielsweise auf Spaziergängen zu begleiten. Fairerweise muss ich aber sagen, dass ich hier im Südhang mehr Zeit für die Patient:innen habe als während meiner früheren Tätigkeit auf anderen Akutstationen.

Warum ist die Zeit für Gespräche mit Patient:innen so wichtig?

Zeit bedeutet, genau zuhören zu können, was in Gesprächen mit Patient:innen mit einer Suchterkrankung sehr wichtig ist. Warum hatte er oder sie erneut konsumiert, obschon er oder sie sich ein anderes Ziel gesetzt hatte? Was war der Auslöser? Das sind zwar Fragen, die in Therapiegesprächen und in verschiedenen Kursen des Behandlungsprogramms vertieft angeschaut werden. Ich stelle aber fest, dass viele Patient:innen das Bedürfnis haben, uns zu erzählen, was bei ihnen los ist. Das ist auch schön, denn es zeigt, dass sie Vertrauen haben. Auch bei der Medikamentenabgabe ist Zeit speziell wichtig, damit uns keine Fehler passieren.

Allgemein in der Pflege, aber insbesondere in der Arbeit mit Patient:innen, die eine psychiatrische oder Suchtdiagnose haben, sind Gespräche zentral und ich wünsche mir mehr Zeit dafür.

Was sind heute die grössten, täglichen Herausforderungen und wie begegnen Sie diesen mit knappen zeitlichen Ressourcen?

Wann immer möglich, suche ich zusätzliche kleine Zeitfenster, beispielweise wenn sich der Früh- und der Spätdienst überlappen und wir für eine kurze Dauer doppelt besetzt sind. Da gibt es meistens Gelegenheiten, besser auf die anwesenden Menschen einzugehen. Persönlich finde ich es bei Zeitdruck sehr wichtig, meine innere Mitte zu finden, damit ich nicht frustriert bin, wenn ich nicht alles schaffe, was ich vorhatte.

Qualitativ gute Arbeit bedarf ausreichender Zeit, das ist keine Frage. Wer den ganzen Tag nur rennt und keine Zeit zum Nachdenken hat, macht sicher Fehler.

In welchen Bereichen könnte wertvolle Zeit gewonnen werden (Stichwort Technik/Informationstools etc.)?

Qualifiziertes Personal und ein eingespieltes Team sparen sicherlich viel Zeit. Ferner wechseln wir per Anfang 2025 für die Dokumentation auf das neue Klinik- und Informationssystem KIS. Unser aktuelles System ist veraltet und braucht für die Eingabe von Daten viel Zeit. Mit dem neuen System können wir künftig allenfalls beim Eintrittsgespräch mit Patient:innen mit Laptops gewisse Daten direkt erfassen, anstatt sie bei uns zu notieren und später ins System einzutragen. Ich kann mir also vorstellen, dass das neue KIS Zeitersparnisse bringen wird.

Bei welchen anderen beruflichen Aspekten ist der Faktor Zeit besonders wichtig (Stichworte Qualität/Sicherheit/ Ausbildung von Pflegefachpersonen)?

Qualitativ gute Arbeit bedarf ausreichender Zeit, das ist keine Frage. Wer den ganzen Tag nur rennt und keine Zeit zum Nachdenken hat, macht sicher Fehler. Zeit für Auszubildende finde ich sehr wertvoll, denn qualifiziertes Personal ist notwendiger denn je. Auszubildende sind unsere Zukunft und brauchen Lernfelder, wo sie auch Fehler machen dürfen und in Ruhe ihre Theorie in die Praxis umsetzen können. Dazu braucht es den Austausch mit uns, die sie ausbilden, um gemeinsam die Arbeit zu reflektieren. Wir sprechen auch über Fehler, die sie allenfalls in Gesprächen mit Patient:innen gemacht haben. Manchmal reicht schon ein «falsches» Wort, um bei Patient:innen ungute Gefühle auszulösen.

Im Vergleich zu früher ist der Fachkräftemangel stark spürbar. Aus fachlicher Sicht ist die Arbeit in unserem Bereich ebenfalls anspruchsvoller geworden.

Wann und wo, beruflich wie privat, nehmen Sie sich einen Moment für sich?

Unser Chef «hütet», wenn er Kapazitäten hat, am Mittag für eine halbe Stunde die Station, damit wir Pflegefachpersonen gemeinsam Mittagessen können. Das ist sehr wertvoll. An meinen freien Tagen versuche ich sowohl Zeit für mich als auch für meine Freunde und Familie zu finden. Wir leben in einer Gesellschaft mit hohem Leistungsdruck und gerade die fehlende Zeit ist oft Auslöser für den Konsum von Alkohol und Drogen. Die Substanzen werden zum Herunterfahren gebraucht, da so viel Leistung gefordert wird. Zeit fehlt vielerorts und wird doch so dringend benötigt – gesellschaftlich in vielerlei Hinsicht.

Beitragsbild: Nadia Michel ist Pflegefachfrau HF in der Klinik Südhang in Kirchlindach BE (zvg. Südhang/Barbara Hell).

   

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