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4. Februar 2022

Background

Spezialisierte Pflege

Gewaltopfer besser betreuen mit mehr Forensic Nurses

«Forensic Nurses könnten in Schweizer Spitälern bei der Betreuung von Gewaltopfern eine wichtige Schittstellenfunktion übernehmen, sie sind aber noch wenig etabliert», sagt die Forensic Nurse Valeria Kägi im Interview.
Competence Martina Greiter

Autorin

Martina Greiter

Redaktorin Competence deutsche Schweiz

martina.greiter@hplus.ch

In der Schweiz sind forensisch ausgebildete Pflegefachpersonen noch wenig etabliert. Weshalb haben Sie sich trotzdem entschieden, diese Weiterbildung zu absolvieren?

In meiner zehnjährigen Tätigkeit als Pflegefachfrau bin ich einigen Patient:innen begegnet, die Gewalt erlitten haben. Auf der Station für Unfallchirurgie kam die zugrunde liegende Straftat oft spät zum Vorschein. Dann hat die Polizei beispielsweise angeordnet, die Kleidung des Gewaltopfers sicherzustellen. Diese hatte die Pflege dann aber oft den Angehörigen mitgegeben, wodurch wertvolle Beweismittel verloren gingen. Ich habe mich als Forensic Nurse spezialisiert, um unser Team zu beraten und dafür zu sorgen, dass Gewaltbetroffene im hektischen Pflegealltag kompetent betreut werden.

Pflegefachfrau Valeria Kägi mit einer Untersuchungsbox, die bei ihrer Tätigkeit
als Forensic Nurse zum Einsatz kommt.(Foto: T. Sieberth, IRM-UZH)

Was ist speziell interessant in Ihrem Berufsalltag?

Als Forensic Nurse bin ich in der klinischen Untersuchung tätig und manage die komple-xen Schnittstellen der involvierten Fachbereiche wie Polizei, Institute für Rechtsmedizin, welche nach einer Strafanzeige aktiv werden, aber auch das medizinische Personal und das Labor. Als Forensic Nurse beurteile ich die Situation objektiv und berücksichtige möglichst alle forensisch-relevanten Aspekte. Gleichzeitig ist es zentral, dass ich den von Gewalt Betroffenen mit Empathie begegne.

Weshalb brauchen wir hierzulande Forensic Nurses?

2020 wurden in der Schweiz der Polizei über 46 000 unterschiedliche interpersonelle Gewaltdelikte gemeldet. Die Dunkelziffer dürfte noch viel höher sein. Personen wenden sich nach erlittener Gewalt oft an ihren Hausarzt oder an ein Spital, um die erlittenen Verletzungen zu versorgen. Häufig kehren sie dann ohne eine Strafanzeige zu erstatten in ihr Umfeld zurück und werden unter Umständen wiederholter Gewalt ausgesetzt.

Wie könnten solche Fälle verhindert werden?

Hilfreich wäre es, frühzeitig Forensic Nurses einzubeziehen, die idealerweise rund um die Uhr verfügbar sind. Das aktuelle Pilotprojekt «Flying Forensic Nurse» stellt ein nieder-schwelliges Angebot dar mit einer objektiven und vollständigen Befunddokumentation, allfälligen Spurensicherung sowie Blut-, Urin- und Haarentnahmen. Sind die Befunde dokumentiert und die Beweismittel und biologischen Spuren erhoben, kann sich die betroffene Person auch später noch zu einer Strafanzeige entscheiden. Wichtig ist immer auch eine Aufklärung über die weiteren Schritte inklusive einer Nachbetreuung durch eine Opferschutzstelle.

Valeria Kägi (links) führt in enger Zusammenarbeit mit einer Ärztin eine Fotodokumentation bei
einer von Gewalt betroffenen Person durch. (Foto: T. Sieberth, IRM-UZH)

Wie sieht die Situation in den Spitälern aus?

Nicht alle Spitäler und Kliniken sind daran interessiert, Pflegefachpersonen bei ihrer Weiterbildung in forensischer Pflege zu unterstützen. Das Fachwissen in Forensic Nursing wird zwar gut aufgenommen, jedoch nur in wenigen Fällen in der Praxis verankert. Dies dürfte auch daran liegen, dass im klinischen Setting die Hauptverantwortung immer noch bei den Ärzt:innen liegt, die aber eine forensisch-erweiterte körperliche Untersuchung nicht als Bestandteil ihrer therapeutischen Tätigkeit betrachten. Pflegefachpersonen übernehmen zwar viele Aufgaben in ärztlicher Delegation, doch wenn der Arzt eine hinsichtlich Gewalt verdächtige Situation nicht oder nicht vollständig erkennt, kann er die weiterführenden Massnahmen auch nicht an eine Forensic Nurse delegieren. Eine forensisch-erweiterte Untersuchung und Spurensicherung ist ferner ressourcen-intensiv, Forensic Nurses sind aber primär Pflegefachpersonen und kommen im klinischen Setting auch bisher hauptsächlich als solche zum Einsatz.

Wie viel Forensic Nurses werden ausgebildet?

In der Schweiz gibt es aktuell vier Institutionen, die eine Weiterbildung in Forensic Nursing anbieten. Eine davon ist das Institut für Rechtsmedizin an der Universität Zürich, welches seit 2015 den CAS in Forensic Nursing anbietet und in diesem Bereich der grösste Weiterbildungsanbieter ist. Mit Abschluss des fünften CAS-Jahrgangs im Jahr 2022 werden total 93 Forensic Nurses ausgebildet worden sein. Doch der Bedarf ist noch lange nicht gedeckt.

Was geschieht aktuell, dass Forensic Nurses in der Schweiz künftig breiter zum Einsatz kommen?

Der Verband Swiss Association Forensic Nursing, der 2017 gegründet wurde, wird sich ab 2022 aktiv an Fort- und Weiterbildungen in forensischer Pflege beteiligen. Eine enge nationale und internationale Vernetzung ermöglicht es Forensic Nurses, ihre Ressourcen zu vereinen und diese weiterzuentwickeln. Vorbild sind die USA, wo Forensic Nursing seit 1992 eine eigene wissenschaftliche Disziplin ist.

Kontakt: Valeria Kägi, Dipl. Pflegefachfrau HF, CAS Forensic Nursing UZH, Institut für Rechtsmedizin, Universität Zürich, Präsidentin Schweizerischer Verband Forensic Nursing, valeria.kaegi@irm.uzh.ch

   

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