«Ein Spital ist keine Schraubenfabrik!» Wer hat diesen Spruch nicht schon einmal gehört? Gemeint ist, dass Spitäler aussergewöhnliche Organisationen sind, die auch aussergewöhnlich schwierig zu führen sind. Der Zweck der Schraubenfabrik ist es, möglichst viele Produkte mit möglichst viel Profit abzusetzen. Doch was ist der Zweck eines Spitals? Klar – die gute medizinische Versorgung von Patientinnen und Patienten!1 Darauf könnten sich wohl alle Beteiligten einigen. Doch sich auch zu einigen, wie dieser Zweck zu erreichen ist, ist die grosse Herausforderung.
Glouberman/Mintzberg2 haben darauf hingewiesen, dass es vier verschiedene «Welten» gibt, die sich in einem Spital mit Führung befassen. Jede steht für eine eigene Anspruchsgruppe mit unterschiedlichen Aufgaben. Die Ärztinnen und Ärzte stehen für «Cure», sie behandeln «ihre» Patienten und sind verantwortlich für Diagnose und Therapie. Die Pflege steht für «Care», sie pflegt Patienten, betreibt die Stationen und koordiniert die Arbeitsabläufe. Die Spitalführung steht für «Control», sie hat die Gesamtleitung inne und kontrolliert die Ressourcen wie Finanzen, Betten und Stellen. Der Verwaltungs- oder Spitalrat steht für «Community» und hat die Aufgabe, die Aktivitäten des Spitals zu beaufsichtigen und die Interessen des Eigners zu vertreten.
Jede dieser vier Welten will aus je eigener Perspektive nur das Beste für die Patienten und das Spital. Erreicht werden kann dies nur mit der Einsicht, dass es in einem Spital Spannungsfelder gibt, die es auszubalancieren und zu managen gilt. Gemäss Glasl/Lievegoed3 ist daher Polaritäten-Management in Spitälern von grosser Bedeutung. Eine Polarität ist ein Paar von gegensätzlichen Tugenden, z. B. Sparsamkeit und Grosszügigkeit. Eine übertriebene Tugend wird zu einer Untugend: Aus Sparsamkeit wird Geiz oder aus Grosszügigkeit wird Verschwendung. In diesem Sinn gibt es im Spital eine Reihe von typischen Polaritäten, die gut auszubalancieren sind.
Strauss et al.4 haben den Begriff des Krankheitsverlaufs unterteilt in «Course of illness» und «Illness trajectory». «Course of illness» wird im Englischen von Laien und Health Professionals gleichermassen verwendet und meint den Ablauf von verschiedenen Stadien einer Krankheit. «Illness trajectory» wurde von Strauss et al. eingeführt und beschreibt, wie die Arbeit entlang des Krankheitsverlaufs organisiert wird und welche Auswirkungen dies auch auf die Health Professionals hat. Jeder Patient bzw. Krankheitsverlauf ist einzigartig, während Spitäler arbeitsteilige, entlang von Kategorisierungen und standardisierten Prozessen organisierte Unternehmen sind. Einzelfall und Standardisierung unter einen Hut zu bringen, ist die erste grosse Herausforderung.
Spitäler sind Expertenorganisationen. Ärztinnen und Ärzte und zunehmend andere Berufsgruppen können und wollen autonom in ihren Zuständigkeitsbereichen entscheiden. Diese Expertinnen und Experten sind die wichtigsten Produktionsfaktoren im Spital. Insbesondere die Ärzte verstehen sich in erster Linie als Angehörige ihrer Profession und ihrer Fachspezialität. Sie sehen das Spital mehr als ihren Arbeitsort und weniger als ihren Arbeitgeber. Für Routinehandlungen im Spital brauchen Health Professionals aufgrund ihrer professionellen Kompetenzen keine Instruktionen. Gleichzeitig sind Spitäler hierarchische Organisationen mit klaren Funktionen und Kompetenzen.
Cure steht für Interventionen, wie Operationen oder das Verabreichen von Medikamenten. Care steht für die kontinuierliche Betreuung und Versorgung der Patienten. Mit Cure befasst sich hauptsächlich die Ärzteschaft, mit Care die Pflege, auch wenn es Überlappungen gibt. In Akutspitälern wird die Pflege oft noch funktionell den Ärzten unterstellt. Dabei ist es die Pflege, welche die Koordination der Patienten übernimmt und reibungslose Abläufe im Spital sicherstellt. Dadurch hat sie den weitaus intensivsten Patientenkontakt und ist Verbindungsglied zwischen medizinischer Behandlung und dem Spital als Organisation.
Die Patienten medizinisch gut zu versorgen, ist nur möglich, wenn sowohl Cure als auch Care in guter Qualität erbracht werden und aufeinander abgestimmt sind. Auch die subjektive Versorgungsqualität (engl.: «patient experience»), also die Qualität der Versorgung aus Sicht der Patienten, beeinflussen Pflegende und Ärzte gleichermassen.
Eine typische Polarität im Spital besteht schliesslich zwischen Medizin und Ökonomie. Wenn diese Bereiche nicht gut ausbalanciert sind, können starke Konflikte die Folge sein. Diese werden meistens zwischen Spitalleitung und Ärzten ausgetragen. Bei derartigen Konflikten geht es nicht um einzelne medizinische Entscheide, sondern um Ressourcenallokation im Spital, beispielsweise, ob eine Organisationseinheit wie bisher weiterbetrieben, umorganisiert oder geschlossen werden soll. Bei dieser Polarität zeigt sich deutlich, welche negativen Auswirkungen Übertreibungen in beide Richtungen haben. Ein profitmaximierendes Spital, das medizinische Qualität ausser Acht lässt, überlebt nicht lange. Einem Spital, das hingegen rein auf medizinische Leistungen fokussiert, geht das Geld aus, wenn es Aspekte der Wirtschaftlichkeit völlig missachtet.
Die Verständigung über diese Polaritäten im Spital ist entscheidend und ein Schlüssel für eine erfolgreiche Spitalführung. Kritisch sind die drei wichtigsten Schnittstellen der vier oben beschriebenen Welten:
Das Ergebnis aller wichtigen Parameter in einem Spital – medizinische Qualität, Wirtschaftlichkeit und Attraktivität für Fachkräfte – hängt letztlich davon ab, wie gut es gelingt, diese Polaritäten auszubalancieren. Gute Kommunikation, gegenseitige Wertschätzung und Vertrauen sind dafür notwendig. Die Bedeutung der Kultur und der zwischenmenschlichen Beziehungen in einem Spital darf daher nicht unterschätzt werden. Doch welche Faktoren der Spitalführung zum Erfolg eines Spitals beitragen, ist kaum wissenschaftlich erforscht. Das ist erstaunlich und bedauerlich zugleich. Erkenntnisse aus anderen Branchen einfach zu übertragen, reicht nicht. Ein Spital ist eben keine Schraubenfabrik.
1Widmer W. Die Kunst der Spitalführung: Inspirationen für ein erfolgreiches Management. careum; 2020
2Glouberman S, Mintzberg H. Managing the care of health and the cure of disease-Part I: Differentiation. Health Care Manage Rev 2001;26(1):56–69; discussion 87-89
3Glasl F, Lievegoed BCJ. Dynamische Unternehmensentwicklung: Grundlagen für nachhaltiges Change Management. Verlag Freies Geistesleben; 2016
4Strauss AL, Fagerhaugh S, Suczek B, Wiener C. Social Organization of Medical Work. Transaction Publishers; 1997