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18. August 2022

Background

Weiterbildung Angehörigen-Begleitung

«Angehörige von psychisch Kranken stärken»

Anita Egloff gehört zu den ersten zwei Personen schweizweit, die sich zur Angehörigenbegleiterin EX-IN ausgebildet haben. Sie ist Angehörige eines Familienmitglieds mit Psychiatrie-Erfahrung und arbeitet heute als Angehörigenbegleiterin auf einer Kriseninterventionsstation der Klinik Liestal.
Competence Sarah Fogal

Autorin

Sarah Fogal

Redaktionelle Koordination Competence

sarah.fogal@hplus.ch

Allein gelassen und ausgeliefert. So hat sich Anita Egloff gefühlt, wenn sie mit einem psychisch erkrankten Familienmitglied in einer psychiatrischen Institution war. «Da war kaum jemand, der wirklich verstehen konnte, wie es ist, Angehörige eines geliebten psychisch kranken Menschen zu sein. Ich habe von den Fachleuten mit wenigen Ausnahmen keine Unterstützung erhalten», erzählt die Mutter dreier Kinder. Den Behandlungsansatz in der Psychiatrie hat sie als defizitorientiert und einseitig auf Medikamente fokussiert empfunden. Die ihr nahestehende Person sei oft als «hoffnungsloser Fall» abgestempelt worden: «Inzwischen sind aber postitive Veränderungen in der Psychiatrie spürbar.»

«Angehörige auf ihrem Weg zu begleiten ist sehr befriedigend.»

Gemeinsam hat die Familie Egloff eine lange Geschichte hinter sich, nachdem ein Kind, das heute erwachsen und mittlerweile stabil ist, psychisch erkrankt war. Den Namen ihres Kindes möchte Anita Egloff nicht nennen, um es zu schützen. Zu Beginn hatte das Kind Ängste, Schlafprobleme und verweigerte schliesslich die Schule. Sie erzählt: «Wir fühlten uns in dieser Situation von den Fachleuten allein gelassen». Als Teenager kommt das Kind erstmals in eine Klinik, zwei Jahre später kommt es zu einem ersten Suizidversuch.

Dazwischen muss die Familie sehr schwierige Situationen zu Hause meistern, der mittlerweile junge Erwachsene bricht verschiedene Ausbildungen ab, ist zeitweise obdachlos. Schwierig war auch die Tatsache, dass sich die Fachleute bei der Diagnose uneinig waren: Zur Debatte standen zunächst Asperger, Persönlichkeits- und Zwangsstörungen sowie Depressionen. Später leidet der junge Erwachsene auch unter starken Stimmungsschwankungen und Paranoia. Hinzu kommt eine Benzodiazepin-Abhängigkeit. Jahre vergehen, in denen das Kind von Anita Egloff immer wieder in Kliniken ist. Ihre Familie droht zeitweise fast zu zerreissen. Das mittlerweile erwachsene Kind wechselt in all den Jahren zwischen Kliniken, Wohnheimen, Wohngruppen und einer eigenen Wohnung.

Ausbildung zur Angehörigenbegleiterin EX-IN

Im Frühling 2019 beginnt Anita Egloff «spontan», wie sie erzählt, in Hamburg die Ausbildung zur Angehörigenbegleiterin bzw. Angehörigen-Peer. Gleichzeitig stabilisiert sich auch auch der Zustand ihres Familienangehörigen. «Seither geht es der ganzen Familie deutlich besser und wir pflegen eine gute Beziehung miteinander», sagt Anita Egloff. 2019 gibt es die Ausbildung erst in Deutschland. Im vergangenen Mai ist die erste Ausbildungsklasse in der Schweiz an der Berner Fachhochschule gestartet. Die Ausbildung steht unter dem Patronat des Dachverbands der Vereinigungen von Angehörigen psychisch Kranker (VASK), die Gesundheitsförderung Schweiz unterstützt den Lehrgang finanziell. «Der Lehrgang ist spannend und beinhaltet u.a. Themen wie Recovery, Empowerment, Trialog und Kommunikation», erzählt Anita Egloff. Jeder Auszubildende muss zudem mindestens zwei Praktika in einer psychiatrischen Institution machen.

Seit vergangenem Januar arbeitet Anita Egloff jeden Mittwoch als bezahlte Angehörigenbegleiterin in der Klinik Liestal: «Es ist für mich sehr befriedigend, Angehörige auf ihrem Weg zu begleiten. Ich möchte ihnen die Hilfe bieten, die mir vor Jahrzehnten selber so gefehlt hat». Ihre eigene Erfahrung komme ihr zugute, «man ist authentisch und das Gegenüber merkt das.» Ihr geht es darum, Angehörige vor Erschöpfung zu schützen, zu beraten und an Fachstellen weiter zu verweisen oder einfach gut zuzuhören. Ebenfalls sieht sie sich als Bindeglied zwischen den Angehörigen und der Ärzteschaft: «Wenn es nötig ist, kann ich auch mal vermitteln.» Heute sei sie auf Augenhöhe mit den Fachleuten, die Ausbildung und Arbeit habe ihr geholfen, auch deren Situation besser zu verstehen.

Angehörigen-Beratung in allen psychiatrischen Institutionen

Für ihre Arbeit hat Anita Egloff einen eigenen Raum und ein eigenes Telefon. Sie ist Teil des Stationsteams und auch bei der zentralen Aufnahme kennt man sie nun und ruft an, wenn ein Angehöriger Hilfe sucht. Sehr hilfreich erlebt sie auch die Zusammenarbeit mit den anderen Peers bzw. Genesungsbegleitern. «Ich kann mein Netzwerk immer mehr ausbauen und fühle mich willkommen und wertgeschätzt.» Sie sieht die Arbeit einer Angehörigenbegleiterin als Gewinn für eine Klinik und wünscht sich, dass andere Kliniken dem Beispiel ihres Arbeitgebers folgen und künftig Angehörigenbegleitende zum ständigen Personal einer psychiatrischen Institution gehören.

https://angehoerigen-begleitung.ch

Beitragsbild: Anita Egloff, Angehörigenbegleiterin EX-IN (Foto: zvg)